Stifte

„Zusammen schreibst du weniger allein“ – Rückblick auf den Digitaltag 2021

Am 18.06.3021 haben wir die Veranstaltung Zusammen schreibst du weniger allein! – Offene digitale Werkzeuge an der TU Hamburg im Rahmen des Digitaltags 2021 angeboten. Der Digitaltag ist ein bundesweiter Aktionstag, der die digitale Teilhabe durch verschiedene Aktionen wie Workshops, Seminare und andere Formate rund um Digitales unterstützen und fördern soll (Mehr dazu auch auf den Webseiten des Digitaltags).

Gemeinsam reflektieren

Die Motivation für uns war zum einen, unsere Projekte und Projektergebnisse sowie Synergieffekte aus den Programmen Hamburg Open Science (HOS) sowie Hamburg Open Online University (HOOU) mit Interessierten zu reflektieren, zum anderen aber praktisches Arbeiten mit unseren Workflows und Tools zu ermöglichen. Unsere Werkzeugkiste, die u. a. aus Etherpads, Markdown, HedgeDoc, Pandoc, GitLab und Methoden des kreativen Arbeitens und Schreibens besteht, sollte in einem entspannten Raum kennengelernt und ausprobiert werden können.

Unser Fahrplan sah zunächst eine Kurzvorstellung von uns als Personen und den Projekten vor. Anschließend wollten wir mit unserem Buch Mehr als 77 Tipps zum wissenschaftlichen Arbeiten ein Praxisbeispiel zeigen, in dem die genannten Werkzeuge zum Einsatz gekommen waren.

Wir sind aber recht früh vom Plan beziehungsweise dem geplanten Kurzinput abgewichen und haben uns nach den persönlichen Vorstellungen in kleiner Runde (wir waren auch positiv überrascht bei den Temperaturen an diesem Freitag dennoch einen Kurzworkshop durchführen zu können) in eine Art Beratung zum wissenschaftlichen Arbeiten übergegangen (Der vorbereitete Foliensatz kann aber hier eingesehen werden). Einige Empfehlungen haben wir dabei in einem gemeinsamen HedgeDoc gesammelt, um gleich eines der Tools unserer Wahl für das gemeinsame Schreiben besser kennenzulernen.

Anschluss finden in der Pandemie

Berichtet wurde uns dabei unter anderem, wie schwer es gerade in Zeiten der Pandemie sei, alleine und ohne Möglichkeiten des Austausches an Schreibprojekten zu arbeiten. Für Studierende, die sich zum Beispiel im Rahmen des Studiums bereits zu Arbeitsgruppen zusammengefunden haben, mag dies keine Herausforderung sein. Aber gerade zu Beginn des Studiums oder auch für Menschen, die ein Studium nebenberuflich oder als Kontaktmöglichkeit starten, sind es doch gerade einige der folgenden Kriterien, die ein Studium attraktiv machen:

  • das Campusleben erleben,
  • unkomplizierter Kontakt zu Mitstudierenden und anderen Hochschulangehörigen,
  • neue Leute kennenlernen, zusammen feiern, lernen und die Herausforderungen des Studiums meistern,
  • Umzug in eine neue Stadt, um auch neue Kulturen kennenzulernen und soziale Kontakte zu Menschen außerhalb des eigenen Fachbereichs zu knüpfen.

Wenn also Tage der offenen Tür an Hochschulen, potentielle Kneipentouren mit Mitstudierenden, Hochschul- sowie Freizeitsport oder ganz normale Stadtführungen und andere Kulturangebote für eine lange Zeit nicht oder nur eingeschränkt möglich sind, so ist es natürlich um so wichtiger, Arbeits- und Schreibbuddys über digitale Angebote zu finden und kennenzulernen. Was hier für uns unter anderem nach dem Digitaltag hängenbleibt: So richtige Angebote für eine virtuelle Schreibwerkstatt oder die Bildung digitaler Arbeitsgruppen und -tandems für den Austausch scheint es kaum zu geben. Gerade für Menschen, die neu in das Studium starten oder frisch umgezogen sind eine schwer zu lösende Aufgabe. Hier können (sollten) Hochschulen und Hochschulbibliotheken zukünftig an ganz neuen Serviceangeboten arbeiten:

Virtuelle Räume mit Raumgefühl nutzen

Aktionstage wie Die kleine Nacht des wissenschaftlichen Schreibens oder „Lange Nächte der aufgeschobenen Hausarbeiten“ funktionieren mit herkömmlichen Videokonferenztools nur schwer. Interaktives Plaudern, Face-to-Face-Gespräche und das Gefühl, sich gemeinsam in einem „echten Raum“ zu bewegen, kann aber mit Hilfe von Angeboten wie Gather attraktiv umgesetzt werden. Digitale Räume wie diese können so zum Beispiel auch dabei unterstützen, dass sich Menschen wieder schneller in Grüppchen zusammenfinden, um gemeinsam zu lernen oder auch einfach nur etwas mehr Gesprächsdynamik wie im „echten“ Leben zu haben (mit mehreren Personen reden, auch mal durcheinander und wechselnd).

Zufalls-Break-Outs anstoßen

In Seminaren könnte das Angebot von gemeinsamen Hausarbeiten attraktiver gestaltet und durch einen besseren organisatorischen Rahmen begleitet werden. Vielleicht ist hier auch das Zusammenwürfeln von Schreibpaaren über zufällige Breakout-Sitzungen schon eine Möglichkeit, einen ersten Austausch zu ermöglichen und gegen die Einsamkeit anzugehen? Also eine Art „Write Roulette“ oder „Author Speed Dating“.

Möglichkeit zur Bildung kleiner Communitys anbieten

Natürlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten, über soziale Medien in Kontakt miteinander zu treten. Viele Menschen haben aber sicherlich gute Gründe, sich aus diesen zurückzuziehen oder diese einfach nicht zu nutzen. Hier gilt es zu überlegen, ob der Gedanke, kleine Communities zu schaffen oder zumindest Raum für das Ausprobieren einer solchen Gemeinschaft zu bieten. So könnte sichergestellt werden, dass Interessierte Zeit mit gleichgesinnten verbringen könnten, um Ideen zu diskutieren, Texte auszuwerten oder einfach Tipps zum Studium auszutauschen.

Workshopreihen gegen das alleine sein vor dem Computer

Workshopreihen können sich ganz gezielt der Problematik widmen. Menschen, die an Haus- und Abschlussarbeiten sitzen und sich wünschen, den einsamen Schreibprozess abzustreifen, hätten mit spezifischen Angeboten einen ganz natürlichen Ansporn zur Teilnahme. Es können gemeinsam Methoden des kreativen Lernens und Schreibens ausprobiert werden. Es kann ein Raum für den Einblick in die Projekte der Teilnehmenden geschaffen werden (gerade interdisziplinär kann das Sprechen durch Formate wie „One Minute Madness“ mit Feedbackrunde in unseren Augen total spannend werden). Fragen, Probleme und individuelle Tipps könnten nach kurzen Inputs weiter thematisiert werden.

Und ihr so?

Welche Ideen habt ihr, um auch zukünftig Schreib- und andere Arbeitsprozesse trotz mehr Digitalität im Rahmen des Studiums oder der Lehre weniger einsam zu gestalten? Kennt ihr vielleicht sogar Angebote, die in den vergangenen Monaten schon erfolgreiche Konzepte angeboten haben? Wir denken, wir können diese Experimentierphasen noch intensiver nutzen: Ideen einfach mal ausprobieren. Könnte ja gut werden.

Stifte

Welche Ideen habt ihr, um Schreiben und andere Arbeitsprozesse trotz mehr Digitalität weniger einsam zu gestalten? (Beitragsbild „Stifte“ von Florian Hagen, CC BY 4.0).

 

CC BY 4.0
Weiternutzung als OER ausdrücklich erlaubt: Dieses Werk und dessen Inhalte sind – sofern nicht anders angegeben – lizenziert unter CC BY 4.0. Nennung gemäß TULLU-Regel bitte wie folgt: „Zusammen schreibst du weniger allein“ – Rückblick auf den Digitaltag 2021“ von Florian Hagen und Axel Dürkop, Lizenz: CC BY 4.0. Der Beitrag steht auch im Markdownformat und als PDF zum Download zur Verfügung.

„Wissenschaftliches Arbeiten“ oder „Wissenschaftliches Schreiben“?

Ein toller Vorteil von offen lizenzierten Inhalten ist, dass beispielsweise Texte und Materialien, die für andere Medien geschrieben oder erstellt wurden, auch selbst veröffentlicht und frei weitergenutzt werden können. Im Folgenden wird der Text „Wissenschaftliches Arbeiten“ oder „Wissenschaftliches Schreiben“? von Thomas Hapke, der unter CC BY 4.0 auf Insights am 15. Juni 2020 veröffentlicht wurde, zusätzlich in einem offenen Format (Markdown) angeboten (siehe Lizenzhinweis am Textende). Zudem soll an dieser Stelle ergänzend auf die aktuellen themenverwandten Beiträge Wissenschaft(lichkeit)skompetenz als Metakompetenz und Multiepistemische Sichten (auf Wissenschaft, auf …) im Hapke-Blog hingewiesen werden.


Nachdenkliches zum Gebrauch von zwei Begriffen

Manchmal fällt es einem auf: Lehrveranstaltungen und Veröffentlichungen, die sich mit Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens und Schreibens beschäftigen, nennen sich immer wieder unterschiedlich. Viele – auch an der TUHH – sprechen eher vom „Wissenschaftlichen Schreiben“, so etwa der Titel der jährlich im Frühjahr an der TUHH federführend von der zentralen Studienberatung organisierten „Kleinen Nacht des wissenschaftlichen Schreibens an der TUHH“, die ja auch von der TUHH-Bibliothek (tub.) mit organisiert wird.

Die TUHH-Bibliothek (tub.) nennt das von ihr organisierte und durchgeführte Bachelor-Seminar im Rahmen des Nicht-Technischen Angebotes der TUHH (NTA) aber „Wissenschaftliches Arbeiten“. Dieses wird von einem Blog als eine Art Schaufenster begleitet, damit Seminar-Inhalte auch von Dritten (insbesondere Studierenden, die keinen Seminarplatz erhalten haben) genutzt werden können.1

Und versucht man dann noch den Begriff „Wissenschaftliches Arbeiten“ ins Englische zu übersetzen, wird man endgültig zum Nachdenken angeregt. Schließlich sind es zahlreiche Aspekte, die Bestandteil des Lifecycles Wissenschaftlicher Kommunikation sind.

Die These dieses Essays ist es, dass solche Benennungen zum wissenschaftlichen Arbeiten mit verschiedenen Sichten auf Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, mit der schwierigen Übersetzung des Begriffs „Wissenschaft“ ins Englische sowie mit dem Kontext und dem institutionellen Hintergrund der diese Begriffe nutzenden Menschen zu tun haben können.

Papierball

Was unterscheidet die Begriffe „Wissenschaftliches Arbeiten“ und „Wissenschaftliches Schreiben“?

Der Unterschied ist wie so oft eine Frage der Sicht.

  • Aus Bibliothekssicht umfasst der Begriff „Wissenschaftliches Schreiben“ zu wenig, da die Potentiale von Bibliotheken allgemein tendenziell eher beim Umgang mit Fachinformation, mit Literaturverwaltung und bei der Publikationsberatung liegen und das eigentliche Schreiben eher am Rande vorkommt. Allerdings gehört Schreiben beim Forschen ja eigentlich von Anfang an dazu, sei es beim Festhalten von Recherchiertem oder Gelesenem, sei es beim Formulieren eines Exposés für wissenschaftliche (Schreib-)Projekte.
  • Aus Sicht von Studierenden und Forschenden fehlen beim Begriff „Wissenschaftliches Arbeiten“, so wie wir ihn in der tub. benutzen, aber oft die Herausforderungen „wirklichen“ Arbeitens, etwa Fragen wissenschaftlicher Methodik, das Experimentieren selbst, deren Dokumentation und das Laborbuch, statistische Auswertungen und vieles mehr.
  • Der Begriff „Wissenschaftliches Schreiben“ wird natürlich auch von Schreibdidaktiker_Innen und Schreibberatenden verwendet, da hier das Schreiben selbst als Schlüsselkompetenz für ein erfolgreiches Studium im Fokus steht. An der TUHH leistet z. B. die Studienberatung für unterschiedliche Zielgruppen wie Studierende und Lehrende, eine Schreibberatung. Es gibt sogar eine Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung, die ein Positionspapier zur „Schreibkompetenz im Studium” publiziert hat.2

Andrea Klein – Autorin des Buches „Wissenschaftliche Arbeiten schreiben“ (2017, verfügbar in der Lehrbuchsammlung der tub. unter WHN-327) – hat sich in ihrem Blog ebenfalls weiter mit dem Unterschied auseinandergesetzt. Für sie werden bei der Benennung „Wissenschaftliches Schreiben“ in solchen Veranstaltungen „[d]iejenigen Phasen im Schreibprozess, die nicht direkt mit der Textproduktion zu tun haben (also etwa das Erarbeiten der Fragestellung oder die Literaturrecherche),[…] dem Schreiben untergeordnet […]“, während unter der Benennung „Wissenschaftliches Arbeiten“ mehr Inhalte behandelt werden und eine stärkere Verankerung in der jeweiligen Disziplin zu beobachten ist.

Die Herausforderung der Übersetzung

Versucht man nun den Begriff „Wissenschaftliches Arbeiten“ ins Englische zu übersetzen und dann entsprechend Lehrveranstaltungen im englischsprachigen Raum zu finden, fällt einem das typisch Deutsche dieses Begriffes auf.

Der Modul-Katalog des NTA-Angebotes zum Bachelor-Seminar „Wissenschaftliches Arbeiten“ übersetzt dieses dann auch mit „Academic Research and Writing“. Andere Übersetzungen wie etwa „academic work“, „scientific work“ oder „scholarly work“ sind im englischen Sprachbereich kaum für diesen Themenbereich üblich. Englischsprachige Lehrveranstaltungen, die man dem deutschen Gebrauch des „Wissenschaftlichen Arbeitens“ zuordnen könnte, tragen bspw. Titel wie „Research Methods“.

„Science“ meint im englischen Sprachbereich eher Naturwissenschaft, also „physical sciences“. Der deutsche Begriff „Wissenschaft“ wird hingegen viel weiter gefasst verwendet. In einer geschichtlichen Betrachtung des Wissenschaftsbegriffes3 heisst es:

Diese Offenheit des Wissenschaftsbegriffs manifestiert sich auf Wortniveau in der notorischen Unübersetzbarkeit des Begriffs selbst; […].

Aber auch im Deutschen umfasst ein Begriff wie „wissenschaftliche Forschung“ eher eine Sicht auf Wissenschaft aus naturwissenschaftlicher Perspektive, wird doch unter DER „wissenschaftlichen Methode“ oft eine eher naturwissenschaftliche Methodik angenommen, die ja als Teil sogenannter „harter“ Wissenschaft auch oft als Vorbild in den Human- und Sozialwissenschaften gilt.

Beim Thema „Wissenschaftliches Arbeiten“ liegt im deutschen Sprachbereich der Schwerpunkt oft zu sehr im methodischen Bereich, bei Arbeits- und Studientechniken (Informations- und Literatursuche, Lesemethoden, Exzerpieren, wissenschaftliches Schreiben und Zitieren sowie Präsentation). Genauso wichtig erscheint es aber, bei diesem Thema auch die Frage nach dem Kern und der Entstehung wissenschaftlichen Wissens zu stellen. Üblich ist im Englischen im Sinne der letzten Deutung auch die Verwendung des Begriffes „scholarly communication“ als Kern wissenschaftlichen Arbeitens.

Auch auf metaphorischer Ebene ist der Begriff der „Übersetzung“ heutzutage wichtig im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Ist es doch heute wichtiger denn je, Ergebnisse der Wissenschaften, aber auch ein Verständnis dafür, wie Wissenschaften funktionieren, in Politik und Gesellschaft zu verankern.

Bei solchen Begriffen wie „Wissenschaftliches Arbeiten“ und „Wissenschaftliches Schreiben“ kommt eigentlich sofort die Frage auf, was das Arbeiten bzw. das Schreiben denn nun wissenschaftlich macht.

Wolf Wagner, u.a. Autor des Buches „Uni-Angst und Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren“,4 schreibt in einem – schon mehr als 20 Jahre alten – Aufsatz5, dass der Begriff „Wissenschaftliches Arbeiten“ als doppelte Drohung daherkomme. 😎 Vielleicht ist deshalb der Begriff auch typisch Deutsch und kommt als wörtliche Übersetzung im englischen Sprachbereich nur selten vor.

Das Wort „Arbeiten“ zeige, dass „es hier nicht um etwas Leichtes, Lustvolles, Spielerisches geht, sondern um Schweres, Anstrengung, Ernst.“ Dabei seien in den Wissenschaften aber durchaus Neugier, Kreativität, „Abenteuer- und Streitlust“ gefragt.

Noch schwieriger wird es beim Wort „wissenschaftlich“, denn „Unwissenschaftliches“ gehöre „angeblich nicht an die Hochschule“. All das hätte also mit „Niveau“ zu tun. “[I]rgendwie [solle man] besser als andere [sein], ohne daß jemals Klarheit bestünde, was genau erfüllt sein muß, um die Forderung zu erfüllen.”6

Um dieser doppelten „Bedrohung“ entgegenzuwirken, lohnt es sich also vielleicht doch, über Wissenschaftlichkeit nachzudenken. Aber wann gibt es im Rahmen eines Studiums eigentlich Zeit und Raum dafür, darüber nachzudenken, was Wissenschaft eigentlich ist, wie sie funktioniert, was ihre Kennzeichen sind, was Wissenschaftlichkeit genau bedeutet?

Dazu kommt, dass sich zur Zeit Konzepte und Werkzeuge der wissenschaftlichen Kommunikation verändern. Diese wandeln sich durch die Digitalisierung und sind optimalerweise von Offenheit geprägt. Diese Tendenz zu Themen wie Open Access und Open Science als aktuelle Herausforderung für die Wissenschaften betont auch Fragen von Wissenschaftlichkeit und die eigentliche Qualität von Wissenschaft.

Zudem kann Wissenschaft vielleicht auch als erlernbares „Handwerk“ angesehen werden. Was das Arbeiten und das Schreiben nun wissenschaftlich macht, darüber sollte man nachdenken. Vorher aber wäre sicher eine Reflexion sinnvoll, was genau nun Wissenschaftlichkeit bzw. Wissenschaft ist.

Sichten auf Wissenschaft(en)

Beim Nachdenken über Wissenschaft sollte man sich bewusst machen, dass es unterschiedliche Sichten auf Wissenschaft gibt, ja, dass man eigentlich im Plural von Wissenschaften mit ihren unterschiedlichen Disziplinen, Sichten, Paradigmen und Methoden sprechen muss.

Nachdenken über Wissenschaft impliziert auch ein Nachdenken über die angewandten Forschungsmethoden. Auch für Studierende und Forschende der Natur- und Ingenieurwissenschaften kann es interessant sein, sich Unterschiede zwischen quantitativer und qualitativer Forschung bewusst zu machen. Wissenschaft wird oft definiert als Naturwissenschaft und damit primär quantitativ. Aber auch in quantitativer Sicht gibt es verschiedene Methoden. Insbesondere in den Sozialwissenschaften unterscheidet man Forschungsmethoden quantitativer und qualitativer Art.

Je nach philosophischem bzw. erkenntnistheoretischen Hintergrund und damit je nach dem jeweiligen Verständnis von Wissenschaft unterscheidet man in den Sozialwissenschaften verschiedene qualitative Forschungsmethoden. Qualitative Sichten auf Wissenschaft können auch für primär quantitativ arbeitende Natur- und Ingenieurwissenschaftler*innen Perspektiven bieten, nicht nur die eigene Sicht auf Wissenschaft auf die Welt zu übertragen, sondern alternative Sichten zuzulassen.7

Schon der Unterschied, ob man von „Wissenschaft“ oder von „Wissenschaften“ spricht, kann auf Unterschiede in der Auffassung über Wissenschaft hinweisen. Sieht man Wissenschaft als systematisches, empirisch fundiertes Theoriengebäude oder als Kultur, System und/ oder Institution mit klaren Normen und Methoden, bei den oft eher die Naturwissenschaften als Vorbild dienen – oder schaut man auf die konkreten Disziplinen mit all ihren unterschiedlichen Zielen, Methoden und Ergebnissen.

Dazu kommen im Rahmen der Vielfalt der Wissenschaften auch noch Sichten auf Wissenschaft(en) hinzu, die etwa genderspezifische Aspekte betonen8 oder nach einem Verständnis von Wissenschaften aus nicht-westlicher Perspektive9 fragen.

Ein Tool

Im Folgenden wird auf ein einfaches Tool hingewiesen, dass dabei unterstützen kann, die eigene Sicht auf Wissenschaft(en) bewusster wahrzunehmen.

Mit dem Wissenschaft-O-Maten werden Nutzenden in Form eines Quiz nach und nach Aussagen über Wissenschaft oder Wissenschaften angeboten. Sie werden jeweils gefragt, welcher Aussage über Wissenschaft sie am ehesten zustimmen würden. Am Ende wird ihnen aus den ausgewählten Antworten eine Sicht auf Wissenschaft angeboten, die zu diesen ausgewählten Aussagen am besten passen könnte.

Man kann dieses Tool im Rahmen einer Lehrveranstaltung oder als Selbst-Lern-Werkzeug nutzen, um Lernenden durch das Lesen der Aussagen über Wissenschaft(en) – zu deren Kennzeichen, über wissenschaftliche Tätigkeiten, über Wissenschaftlichkeit und Realität – bewusst zu machen, dass Wissenschaft unterschiedlich erfahren bzw. verschieden wahrgenommen werden kann.

Natürlich stellen die im Wissenschaft-O-Maten berücksichtigten Sichten auf Wissenschaft(en) auch nur eine Auswahl dar. So gehören – wie schon oben erwähnt – auch feministisch orientierte Sichten oder postkoloniale und nichtwestliche Sichten auf Wissenschaft zu einer vollständigeren Betrachtung von Sichten auf Wissenschaft(en) dazu. Eine historisch orientierte Sicht auf den Begriff Wissenschaft liefern Paul Ziche und Joppe van Driel.

Eine didaktisch-theoretische „Fundierung“ des Wissenschaft-O-Maten bietet neben diesem Essay vielleicht mein – auch als Preprint publizierter – Text mit dem Titel „Wissenschaft und Offenheit : Reflexion über Wissenschaft als Teil der Lehre zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben“.10

Was macht Schreiben eigentlich wissenschaftlich?

Schreiben ist für den Philosophen Daniel-Pascal Zorn ein „Labor des Denkens“11. Mit diesem Bild wird auch für ingenieur- und naturwissenschaftliche Studierende, die ja öfters in Laboren unterwegs sind, das Schreiben vielleicht nähergebracht. Studierende dieser Fachgebiete schreiben vor ihren Abschlussarbeiten zudem in der Regel auch Klausuren und Versuchsprotokolle.

Jede und jeder schreibt, eine SMS, eine Mail oder auch anderes. Aber was macht nun das Schreiben wissenschaftlich? Schreiben beginnt eigentlich schon am Anfang einer jeden wissenschaftlichen Arbeit, etwa beim Exposé oder durch Notizen12 beim Lesen und Experimentieren (hier vielleicht als Forschungs-Tagebuch oder Laborbuch).

In Anlehnung an Otto Kruse13 und Helga Esselborn-Krumbiegel14 werden in der folgenden Abbildung zur Beantwortung der Frage „Was macht Schreiben wissenschaftlich?“ drei Ebenen unterschieden, eine Fach-Ebene, eine Meta-Ebene und eine Form-Ebene:

Die Berücksichtigung aller drei Ebenen machen einen Text zu einem wissenschaftlichen Text.

Fach-liches

  • Einbettung des Textes bzw. des eigenen Schreibens in eine disziplinäre oder interdisziplinäre Systematik des Wissens und der Forschungspositionen
  • Begründetes Vorgehen, methodisch und argumentativ nachvollziehbar (Roter Faden)

Es gibt also eine deutlich erkennbare Fragestellung innerhalb eines Themas oder einer Disziplin. Es wird begründet, warum diese wichtig ist für das Fach bzw. für die Welt.

Es folgt daraus auch, dass eigene Überlegungen und eigene Forschung sowie die Forschung anderer unterscheidbar sind. Verwendete Quellen müssen belegt werden. Es wird klar gezeigt, wie man die Fragestellung beantworten will.

Meta-liches

  • Objektivität: objektive, sachliche Darstellung
  • Kritikgebot: skeptische, kritische Grundhaltung

Subjektive Urteile und Meinungen werden vermieden bzw. klar sichtbar gemacht. Bewertungen von Schreibenden oder innerhalb der benutzten Quellen sind deutlich erkennbar. Kritik wird begründet.

Form-ales

  • Einhaltung von Konventionen der Darstellung: Textgenres, Gliederungen, Zitierstile usw.
  • Sprachliche und terminologische Genauigkeit

Zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben gehört auch eine gewisse Exaktheit, und die fängt schon zum Beispiel beim Umgang mit der Literatur an.

Was macht Arbeiten eigentlich wissenschaftlich?

Wie wird aber nun das Arbeiten wissenschaftlich? Wissenschaft ist ja auch eine (gesellschaftliche) Institution, insofern könnte man alles das als „wissenschaftlich“ bezeichnen, was in wissenschaftlichen Einrichtungen, Universitäten, Forschungs-Institutionen, wissenschaftlichen Gesellschaften u. ä. gearbeitet bzw. erarbeitet wird. Nach den Wissenschaftshistorikern Ziche und van Driel stabilisieren Wissenschaftsinstitutionen die Wissenschaft.

Auch die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Forschung fällt bei einem eher institutionellen Blick auf Wissenschaft auf. Aus Sicht des Forschungsmanagements werden beide Begriffe

„[…] im alltäglichen Sprachgebrauch fast synonym gebraucht, obwohl es einen (kleinen) Unterschied gibt. Die Wissenschaft sucht nach Erkenntnisgewinn allgemeiner Art. […] Die Wissenschaft ist prinzipiell zweckfrei und erhöht ständig das kulturelle Wissen der Menschheit, […] Die Forschung hingegen ist nicht zweckfrei, sondern sie beginnt mit einer Fragestellung und verfolgt ein konkretes Ziel.“15

Ob diese Unterscheidung hinsichtlich Zweckfreiheit wirklich den Punkt ausmacht, darf bezweifelt werden, wurden doch zur Frage des „Wozu?“ von Wissenschaft schon ganze Bücher geschrieben.16

Aus einer anderen Sicht umfasst Wissenschaft Forschung und Lehre. Manche wissenschaftliche Institutionen wie etwa Universitätskliniken haben sogar drei Funktionen: Sie sind normale Krankenhäuser und behandeln Patienten, sie müssen Studierende ausbilden und dann sollen sie in diesem Kontext auch noch klinische Forschung, also Forschung am Patienten, betreiben.17

Und wie nehmen Sie den Unterschied zwischen „Wissenschaftlichem Arbeiten“ und „Wissenschaftlichem Schreiben“ wahr? Was verstehen Sie unter Wissenschaftlichkeit? Wirken sich Sichten auf Wissenschaft auch auf Ihren Alltag aus?


Literaturverweise

1. Ein weiteres Schaufenster ist mit dem Blog „tub.torials – Gedanken, Ideen und Materialien zu Offenheit in Wissenschaft, Forschung und Lehre“ entstanden.

2. Kurzfassung von Nadine Stahlberg vom ZLL.

3. Paul Ziche u. Joppe van Driel: Wissenschaft. In: Europäische Geschichte Online EGO = European history online / hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte Mainz. 2011.

4. Wolf Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren. 3. Aufl. Berlin: Rotbuch-Verl 2012 (Link zur Urfassung aus dem Jahre 1977)

5. Wolf Wagner: Wissenschaftliches Arbeiten. In: Handbuch kritische Pädagogik. Hrsg. von Armin Bernhard u. Lutz Rothermel. Weinheim: Dt. Studien-Verl. 1997. S. 425–429

6. Alle obigen Zitate S. 425

7. Vgl. auch Svend Brinkmann: Philosophies of Qualitative Research. Oxford: Oxford University Press, 2018.

8. Vgl. etwa Iris Mendel: WiderStandPunkte : umkämpftes Wissen, feministische Wissenschaftskritik und kritische Sozialwissenschaften. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015.

9. Vgl. etwa Boaventura de Sousa Santos: Epistemologien des Südens : gegen die Hegemonie des westlichen Denkens. Münster: Unrast, 2018.

10. In Thomas Hapke: Wissenschaft und Offenheit : Reflexion über Wissenschaft als Teil der Lehre zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben. In: Praxishandbuch Schreiben in der Hochschulbibliothek, herausgegeben von Willy Sühl-Strohmenger und Ladina Tschander. S. 58–69. Berlin: De Gruyter, 2019 (Preprint)

11. Vgl. Daniel-Pascal Zorn: Einführung in die Philosophie. Frankfurt am Main: Klostermann 2018, S. 111.

12. Siehe auch Beitragsserie #Notizschreibwochen2020

13. Otto Kruse: Lesen und Schreiben. 3. Aufl. Konstanz: UVK, 2018, S. 84.

14. Helga Esselborn-Krumbiegel: Richtig Wissenschaftlich Schreiben. 3. Aufl. Paderborn: Schöningh, 2014, S. 13.

15. Lothar Behlau: Forschungsmanagement. Berlin Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2017, S. 1.

16. Joachim Schummer: Wozu Wissenschaft? Neun Antworten auf eine alte Frage. Berlin: Kadmos, 2014.

17. Vgl. die Darstellung der Rolle von Universitätskliniken in der Corona-Pandemie bei Christian Drosten: Das Coronavirus-Update (23) – Die Forschung braucht jetzt ein Netzwerk (27.03.2020 12:35 Uhr) https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Update-Die-Podcast-Folgen-als-Skript,podcastcoronavirus102.html


CC BY 4.0

Weiternutzung als OER ausdrücklich erlaubt: Dieses Werk und dessen Inhalte sind – sofern nicht anders angegeben – lizenziert unter CC BY 4.0. Nennung gemäß TULLU-Regel bitte wie folgt: „Wissenschaftliches Arbeiten“ oder „Wissenschaftliches Schreiben“? von Thomas Hapke, Lizenz: CC BY 4.0. Die Originalveröffentlichung ist bei Insights verfügbar. Bearbeitungshinweise: Das Beitragsbild wurde aufgehellt und entfärbt. Der Beitrag wurde um einen Einführungstext ergänzt. Dem Beitrag wurde die Fußnote 12 hinzugefügt. Der Text ist im Markdownformat und als PDF verfügbar.
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