Notizen zum Notizen machen (Beitrag von Thomas Hapke) #Notizschreibwochen2020
Und schon heute ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Katalogsystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers, der’s verfasste, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Kartothek. […] Laß dir keinen Gedanken inkognito passieren und führe dein Notizheft so streng wie die Behörde das Fremdenregister.1
Wahrscheinlich hatte Benjamin den folgenden Aphorismus des Physikers
Er exzerpierte beständig, und alles, was er las, ging aus einem Buche neben dem Kopfe vorbei in ein anderes.2
Ein Beispiel aus der Kunst zum Notizen-Machen stammt von der
Vielleicht sollte ich hier auch noch erwähnen, dass ich über Jahre auf dem Weg zum Bahnhof am Geburtshaus des berühmten Sohnes eines Brauereibesitzers in Lüneburg vorbeigekommen bin. Dieser Sohn war der Soziologe
Wozu machen wir eigentlich Notizen?
Notizen dienen dazu, etwas zu behalten, nicht zu vergessen, etwas, was man später vielleicht benötigt, um es vertiefend zu lernen oder die enthaltenen Gedanken weiter zu verfolgen. Notizen unterstützen also wie jedes Schreiben auch das Denken. Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn hat das Schreiben sogar als „Labor des Denkens“ bezeichnet.3
Mit dem Anfertigen von Notizen beginnt also das Denken und damit eigentlich auch jede wissenschaftliche Arbeit. Und eigentlich gehört zum Notizen-Machen auch das Notizbuch, womit die Frage des „Wie?“ beim Notizen-Machen angesprochen ist. Auch das Führen eines Forschungs- oder Lese-Tagebuchs und eines
Ein solches Werkzeug dokumentiert also auch den eigenen Denkprozess und kann zudem dazu dienen, auf neue Ideen zu kommen, also die eigene Kreativität zu fördern. Ein Optimum wäre für mich so etwas wie eine Notiz-Maschine, ein ausgelagertes Gehirn, das wichtige Gedanken, die man glaubt zu haben, interessante Quellen und Zitate, die man liest, blitzschnell erfasst und dauerhaft recherchierbar zum jederzeitigen Abruf speichert, möglichst noch im Rahmen einer ausgefeilten systematischen Ordnung.
Wie machen wir Notizen?
Im vorigen Abschnitt wurde das „Wie“ ja schon angesprochen. Ein ethnografisch orientierter Text zur Praxis wissenschaftlichen Arbeitens in den Kulturwissenschaften, hier bezeichnet als „Library Life“4, unterscheidet beim „organisierenden Inventar“
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sogenannte „analoge Organanten“ wie Stifte, Blätter und Zettel, Hefte und Notizbücher, Mappen, Stapel und Haufen, Ordner, Kartons und Kisten, Zettelkästen und Register, Räume und Regale sowie Tische,
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und „digitale Organanten“ wie Computer, Interfaces, Speichermedien, Internet, Textdokumente, Virtuelle Ordner, Desktops, Schreibprogramme, Literaturdatenbanken, Weblogs und Recorder und
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dazu komplexe Hybridsysteme.
Historischer Exkurs
Ein bisschen ist das Thema Notizen für mich auch so etwas wie ein „Lebensthema“, da meine historischen Arbeiten zur Geschichte des Informationswesens5 sich am Rande auch mit dem Notizen-Machen befasst haben. So hatte auch ein vor Jahren von mir bespielter Weblog mit dem Titel „Creative Combinatorics – as a foundation of creativity, information organisation and art“ als Kennzeichnung „notes“ als Teil der Webadresse. Hat doch einer meiner historischen Kernfiguren, mit denen ich mich näher beschäftigt habe, der Chemie-Nobelpreisträger
WissenschaftshistorikerInnen wie
Für Ostwald waren die wesentlichen „Elemente“ (übrigens ein in der Chemie oft benutzter Begriff! 😎 ) des wissenschaftlichen Arbeitens etwa Karteikarten oder Zeitschriftenaufsätze. Ostwald beschrieb ein „Handbuch der Zukunft“, das durch „Umwandlung des Buches in die Kartothek“ entstehen sollte.
Wird dann darauf geachtet, daß jedes Blatt nur ein Thema enthält, so erkennt man alsbald, daß eine unbegrenzte Kombinierbarkeit der so erhaltenen Elemente erreicht wird, und daß man, je nach dem Zweck, den man verfolgt, gegebenenfalls jede beliebige Beziehung der dargestellten Tatsachen durch die räumliche Ordnung dieser Karten zum Ausdruck bringen kann.10
Dies nannte Ostwald das „Prinzip der unabhängigen Handhabung des einzelnen Stückes“ oder auch „Monographieprinzip”. Dadurch sollte die „Beweglichkeit des Gedankens” erhalten bleiben.11
Der schon erwähnte Bührer hatte bereits 1890 auf die Nutzung von Karteikarten im Geschäftsleben, aber auch zur Erleichterung des wissenschaftlichen Arbeitens hingewiesen und dabei so etwas wie ein „Monographie-Prinzip“ formuliert. Für ihn diente „“[j]edes Blatt […] ganz konsequent [Hervorhebung im Original] nur für eine Notiz, welche oben rechts durch Anbringung eines Titels sofort rubriziert wird […] Gelehrten ist dieses Zettelsystem zum Sammeln und Ordnen ihrer Exzerpte ganz besonders zu empfehlen.“12
Das auch von
Otlets Idee zum Monographie-Prinzip kann durchaus durch seine Bekanntschaft mit Ostwald und Bührer entstanden sein. Ostwald und Otlet waren sich das erste Mal auf dem Congrès Mondial des Associations Internationales 1910 in Brüssel begegnet, während Bührer sich schon im Jahre 1908 schriftlich an das Institut International de Bibliographie wandte, um eine Zusammenarbeit mit der von ihm ins Leben gerufenen Internationalen Monogesellschaft zu erreichen.
Eine Form von Autoethnographie, meine eigene Praxis
Für mich selbst gilt beim Notizen-Machen eigentlich, dass ich fasst alle der oben genannten „Organanten“ irgendwie nutze, ohne dass ich bei der Nutzung immer eine wirkliche Systematik einhalte. Vieles passiert zufällig, in Abhängigkeit von jeweiligen Möglichkeiten und Kontexten, auch von der Stimmung. Und dies alles sowohl analog als auch digital.
Noch heute empfinde ich die Arbeit mit Karteien und Karteikarten durchaus als eine sinnvolle Möglichkeit, Informationen, Texte und Lernstoff zusammenzufassen, zu verarbeiten und zu behalten, zwingt doch das Beschriften der Karte zu Systematik und Gliederung sowie zur Auswahl und damit zum Erkennen des Wesentlichen und erhöht damit das Behalten der Inhalte. Durch die Fragmentierung auf Karteikarten können Informationen beliebig und flexibel geordnet werden. Dabei nahmen Karteikarten durchaus Hypertext-Aspekte voraus, die uns heute durch das World Wide Web mit seinen Links geläufig sind.
Für mich wichtige Bücher versuche ich so auf eine Karteikarte im Format DIN A5 mit den wichtigsten Aussagen zu erfassen.
Bücher, die ich besitze, werden unter Umständen durch Anstreichungen mit Bleistift oder Bemerkungen am Rand zum „Notiz“-Buch.
Auf manchen meiner Karteikarten finden sich auch graphische Darstellungen oder Mind Maps zu Themen oder erfassten Werken.
Letztlich sind Notizen also auch eine Form von kognitiven Landkarten. „Notizen machen“ entspricht damit dem Abbilden („Mapping“) einer Landschaft (dem Objekt, dem Werk, dem Thema) auf einer Landkarte. Notizen entsprechen persönlichen Repräsentationen bzw. Landkarten von Landschaften der Wirklichkeit.
Auch für das wissenschaftliche Arbeiten wird eine solche Analogie manchmal verwendet, wenn etwa eine wissenschaftliche Theorie als Landkarte eines Forschungsobjektes, der Landschaft, angesehen werden kann und es da durchaus unterschiedliche Perspektiven geben kann.14 Notizen sind wie „Landkarten etwas Anwendungsorientiertes“, sie dienen persönlichen Zwecken.
So ist dann auch diese Landkarte zu Sichten auf Wissenschaft letztlich nichts Anderes als eine Notiz, der persönliche Versuch, die unterschiedlichen Sichten auf Wissenschaft auf einer Karteikarte oder eine Folie zu „pressen“:
Wenn ich für mich mein oft auch noch handschriftliches Aufschreiben im Vergleich zum Nutzen einer Tastatur eines Computers betrachte, kann ich Erfahrungen bestätigen, die in einem Interview von Katrin Schmermund mit dem Neurowissenschaftler Henning Beck beschrieben werden.15 Was ich mit der Hand aufschreibe, behalte ich in der Regel länger.
In einer Art Lese-Tagebuch – in Form gebundener Bücher mit weißem Papier im DIN-A5-Format – erfasse ich seit Jahren in Kästen gesammelte Kopien, verweise auf angefertigte Kartei-Karten, gelesene Texte oder mache auch nur Notizen zu bestimmten Veranstaltungen oder etwa zu Urlauben und Wochenenden und dabei beobachteten Tieren.
Das Blättern in diesen Bänden, der fünfte ist bald voll, ist eine Fundgrube für zu Erinnerndes und für mich auch eine Quelle für neue – oft auch alte, d.h. vergessene – Ideen. Als genutzte Ordnung erfolgt hier also meistens eine zeitliche Sortierung.
Letztlich sind für mich auch das Ablegen von Kopien in Ordner oder Kisten zu Hause, das Speichern eines Aufsatzes
Frage ich mich aber jetzt ehrlicherweise, ob all das, was ich irgendwo abspeichere, bei einem konkreten Suchfall wirklich hilft und ich dann das auch finde, wonach ich suche, muss ich zugeben, dass dies sehr oft auch nicht der Fall ist. Mir persönlich hilft noch am ehesten die zeitliche Ordnung abgelegter Notizen, in welchem Medium auch immer. Trotzdem höre ich (zur Zeit!) mit dem Abspeichern nicht auf, beruhigt es doch wenigstens 😎 und erhöht zumindest die Wahrscheinlichekit des Wieder-Erinnerns und Wieder-Findens.
Ergänzend zum oben schon erwähnten Optimum einer Notiz-Maschine würde meine ideale Maschine auf einem Bildschirm laufend zufällig ausgewählte Notizen an die Oberfläche bringen, so wie auf meinem Laptop zufällig ausgewählte Fotos aus meiner „Fotothek“ als Bildschirmschoner auftauchen.
Fußnoten
Über den Autor:
Thomas Hapke arbeitet als Fachreferent für Verfahrenstechnik sowie stellvertretender Leiter an der Universitätsbibliothek der TU Hamburg. Seine Interessengebiete, Informationskompetenz, die digitale Bibliothek sowie die Geschichte wissenschaftlicher Information und Kommunikation, werden auch in seinem Weblog und bei Twitter sichtbar.
Er begleitet die Hamburg Open Online University (HOOU) von Anfang an und ist in der Lehre an der TUHH im Rahmen eines Bachelor-Seminars zum wissenschaftlichen Arbeiten aktiv, das von einem Weblog begleitet wird. Besonders interessiert beobachtet er sich verändernde Konzepte und Werkzeuge der wissenschaftlichen Kommunikation, die sich durch die Digitalisierung wandelt und die optimalerweise von Offenheit geprägt ist.
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