Sich systematisch informieren – das Beispiel Verfahrenstechnik

Immer wieder taucht die Frage nach einem Leitfaden oder einer kurzen Übersicht auf, wie man systematisch nach Informationen suchen sollte und sich dabei sicher zu sein, nichts Wichtiges zu übersehen.

Für den jährlich stattfindenden Projektierungskurs Verfahrenstechnik des betreffenden Studiendekanats an der TUHH wurde dieses Jahr ein (englischsprachiges) Handout erstellt. Dieses versucht auf einer Seite in linearer Form – ausgehend von allgemeinen Informationsmitteln zur Orientierung und als Hintergrundinformation bis hin zu detaillierten Quellen des Nachweises aktueller Forschung – die wichtigsten spezifischen Informationsquellen zur Verfahrenstechnik an der TUHH vorzustellen. Auch eine Poster-Version, die inhaltlich etwas umfangreicher ist, steht zur Verfügung. Manche der Inhalte sind sicher auch für andere ingenieurwissenschaftliche Fachgebiete von Relevanz.

Die hier dargestellte Linearität des Rechercheprozesses wird beim praktischen wissenschaftlichen Arbeiten sicher selten so praktiziert. Die Praxis ist deutlich iterativer und sprunghafter. Oft muss man ad hoc in Abhängigkeit vom praktischen Experiment bestimmte Stoffdaten oder Sicherheits-Informationen ermitteln, dann werden immer mal wieder Hintergrund-Informationen benötigt oder man wird zu bestimmten neuen Aspekten, die beim Forschen neu auftauchen, bei Google Scholar nicht fündig und muss dann doch noch einmal in speziellen Fachdatenbanken nach Ergebnissen aktueller Forschung recherchieren.

Vorbild und Ausgangspunkt bei der Erstellung des Handouts war ein Poster von Crystal Boyce der amerikanischen Illinois Wesleyan University, „Chemistry Lab Poster“ (2016). Das Handout und das Poster stehen in diesem Blog genauso wie das Original unter der Creative Commons Lizenz CC_BY-NC-SA International License zur Verfügung. Die verwendeten Cliparts, die nicht im Ursprungsposter auftauchen, stammen von openclipart.org und haben die Lizenz CC0, sind also Public Domain. Letzteres gilt auch für die weiteren verwendeten Abbildungen.

Vermeiden Sie Wissenschaftspossen!

Leider gibt es keinen Ort, an dem verzeichnet ist, ob ein bestimmtes wissenschaftliches Thema schon mal bearbeitet wurde oder nicht! Nur gründliches Recherchieren vermeidet Doppelarbeit und erhöht die eigene Sicherheit, dass man nichts übersieht!

In einem Bericht des „Spiegel“ aus dem Jahre 2007 ist ein solcher Fall von Doppelarbeit unter dem Titel „Wissenschafts-Posse: Ahnungslose Chemiker entdecken Verbindung zum zweiten Mal“ (Jens Lubbadeh, 6.12.2007) populär aufbereitet worden. Auch in der Zeitschrift Nature wurde darüber berichtet: Katharine Sanderson: Where have I seen that before? 103-year-old chemical reaction pops up again (4.12.2007).

Die Veröffentlichung einer japanischen Forschergruppe (Yamaguchi, I.; Gobara, Y.; Sato, M. One-pot synthesis of N-substituted diaza[12]annulenes. Org. Lett. 2006, 8 (19), 4279–4281) postulierte die Herstellung eines neuen Ringmoleküls aus 10 Kohlenstoff- und zwei Stickstoffatomen. Darauf aufbauend erschien danach ein Artikel einer amerikanischen Forschergruppe (Shi, L.; Lundberg, D.; Musaev, D. G.; Menger, F. M. [12]Annulene gemini surfactants: structure and self-assembly. Angew. Chem. Int. Ed. Engl. 2007, 46 (31), 5889–5891).

Zincke, T. Justus Liebigs Ann. Chem. 1904
Der deutsche Chemiker Christl fand heraus, dass die vermeintliche Neuentdeckung schon vor mehr als 100 Jahren in der Literatur vom deutschen Chemiker Theodor Zincke beschrieben wurde: Zincke, T. Ueber Dinitrophenylpyridiniumchlorid und dessen Umwandlungsproducte. Justus Liebigs Ann. Chem. 1904, 330 (2), 361–374.

Die Japaner haben letztendlich ihren Artikel zurückgezogen. Die amerikanische Forschergruppe hat ein Corrigendum veröffentlicht: Shi, L.; Lundberg, D.; Musaev, D. G.; Menger, F. M. [12]Annulene gemini surfactants: structure and self-assembly. Angew. Chem. Int. Ed. 2007, 46 (48), 9135.

Der deutsche Chemiker Christl hat dann noch seinen Korrekturhinweis in der Angewandte Chemie (Christl, M. 1,7-Diaza[12]annulene derivatives? 100-year-old pyridinium salts! Angew. Chem. Int. Ed. Engl. 2007, 46 (48), 9152–9153) publiziert.
2014-07-01 15_05_32-9152_ftp

Am Schluss des Spiegel-Artikel wird die spannende Frage „Wie konnte eine 102 Jahre alte Entdeckung einfach übersehen werden – obwohl jeder Artikel von externen Gutachtern der Fachmagazine geprüft wurde?“ kurz diskutiert.

Was kann man noch aus diesem Lehrstück der Wissenschaftskommunikation lernen?

  • Die nicht mehr funktionierenden Links auf die Originalveröffentlichungen im Spiegel demonstrieren die Bedeutung und Wichtigkeit von Identifyern, z.B. DOIs, für digitale Objekte bzw. Dokumente.
  • Schon zu Zeiten von Zincke dachte man über Institutionen und Werkzeuge nach, das Weltwissen an einer Stelle zu sammeln, eindeutig zu ordnen und dauerhaft verfügbar zu machen, ein Traum, der wohl kaum in Erfüllung gehen wird. Zu diesen Aktivitäten finden Sie weitere Hinweise in einem Blog-Artikel der TU-Bibliothek mit dem Titel „Weltenzyklopädien vor 100 Jahren, der 2011 anläßlich des 10. Geburtstages von Wikipedia erschienen ist.

Die Angst wichtige Informationen zu übersehen!

Mit diesen Tipps sind Sie vielleicht etwas sicherer, dass Sie beim Recherchieren nichts Wichtiges übersehen. Beachten Sie auch die Webseite „Sich informieren – Tipps zum Überleben

  • Verschiedene Datenbanken nutzen.
  • Spezifische Fach-Datenbanken nutzen: Im Datenbank-Informationssystem DBIS finden Sie fachbezogene Empfehlungen zu freien und zu nur im TUHH-Intranet verfügbaren Datenbanken. Mit Hilfe eines Datenbank-Steckbriefes können Sie die Features der jeweiligen Datenbank (abgedeckte Fachgebiete und Dokumenttypen wie Zeitschriften-Aufsätze und/oder Konferenz-Beiträge, nur Abstracts oder auch Volltext durchsuchbar sowie weitere Recherche-Möglichkeiten wie Wildcards und Suchfelder) selbst erkunden.
  • Über geeignete Suchbegriffe nachdenken: Spielen Sie mit Suchbegriffen!
    Eine Unterstützung beim Nachdenken über Suchbegriffe ist das Suchbegriffs-Diagramm.
    Suchbegriff-Diagramm-Logik
    Formulieren Sie Ihr Thema. Denken Sie z.B. daran, wie andere Autoren Ihr Thema im Titel eines für Sie wichtigen Zeitschriften-Aufsatzes formuliert haben würden. Überlegen Sie sich für die Teil-Komponenten Ihres Themas Synonyme, Ober- und Unterbegriffe. Hier noch ein Beispiel für ein Suchbegriffs-Diagramm: Suchbegriff-Diagramm
  • Die logische Verknüpfung von Suchbegriffen nutzen, wenn es die Datenbank erlaubt. Synonyme werden mit dem logischen „oder“ kombiniert, die Teil-Komponenten Ihres Themas mit „und“.
  • Den Überblick behalten durch effektive Literaturverwaltung.