Leider gibt es keinen Ort, an dem verzeichnet ist, ob ein bestimmtes wissenschaftliches Thema schon mal bearbeitet wurde oder nicht! Nur gründliches Recherchieren vermeidet Doppelarbeit und erhöht die eigene Sicherheit, dass man nichts übersieht!
In einem Bericht des „Spiegel“ aus dem Jahre 2007 ist ein solcher Fall von Doppelarbeit unter dem Titel „Wissenschafts-Posse: Ahnungslose Chemiker entdecken Verbindung zum zweiten Mal“ (Jens Lubbadeh, 6.12.2007) populär aufbereitet worden. Auch in der Zeitschrift Nature wurde darüber berichtet: Katharine Sanderson: Where have I seen that before? 103-year-old chemical reaction pops up again (4.12.2007).
Die Veröffentlichung einer japanischen Forschergruppe (Yamaguchi, I.; Gobara, Y.; Sato, M. One-pot synthesis of N-substituted diaza[12]annulenes. Org. Lett. 2006, 8 (19), 4279–4281) postulierte die Herstellung eines neuen Ringmoleküls aus 10 Kohlenstoff- und zwei Stickstoffatomen. Darauf aufbauend erschien danach ein Artikel einer amerikanischen Forschergruppe (Shi, L.; Lundberg, D.; Musaev, D. G.; Menger, F. M. [12]Annulene gemini surfactants: structure and self-assembly. Angew. Chem. Int. Ed. Engl. 2007, 46 (31), 5889–5891).
Der deutsche Chemiker Christl fand heraus, dass die vermeintliche Neuentdeckung schon vor mehr als 100 Jahren in der Literatur vom deutschen Chemiker Theodor Zincke beschrieben wurde: Zincke, T. Ueber Dinitrophenylpyridiniumchlorid und dessen Umwandlungsproducte. Justus Liebigs Ann. Chem. 1904, 330 (2), 361–374.
Die Japaner haben letztendlich ihren Artikel zurückgezogen. Die amerikanische Forschergruppe hat ein Corrigendum veröffentlicht: Shi, L.; Lundberg, D.; Musaev, D. G.; Menger, F. M. [12]Annulene gemini surfactants: structure and self-assembly. Angew. Chem. Int. Ed. 2007, 46 (48), 9135.
Der deutsche Chemiker Christl hat dann noch seinen Korrekturhinweis in der Angewandte Chemie (Christl, M. 1,7-Diaza[12]annulene derivatives? 100-year-old pyridinium salts! Angew. Chem. Int. Ed. Engl. 2007, 46 (48), 9152–9153) publiziert.
Am Schluss des Spiegel-Artikel wird die spannende Frage „Wie konnte eine 102 Jahre alte Entdeckung einfach übersehen werden – obwohl jeder Artikel von externen Gutachtern der Fachmagazine geprüft wurde?“ kurz diskutiert.
Was kann man noch aus diesem Lehrstück der Wissenschaftskommunikation lernen?
- Die nicht mehr funktionierenden Links auf die Originalveröffentlichungen im Spiegel demonstrieren die Bedeutung und Wichtigkeit von Identifyern, z.B. DOIs, für digitale Objekte bzw. Dokumente.
- Schon zu Zeiten von Zincke dachte man über Institutionen und Werkzeuge nach, das Weltwissen an einer Stelle zu sammeln, eindeutig zu ordnen und dauerhaft verfügbar zu machen, ein Traum, der wohl kaum in Erfüllung gehen wird. Zu diesen Aktivitäten finden Sie weitere Hinweise in einem Blog-Artikel der TU-Bibliothek mit dem Titel „Weltenzyklopädien vor 100 Jahren, der 2011 anläßlich des 10. Geburtstages von Wikipedia erschienen ist.
Vielen Dank für diesen spannenden Artikel!
In meinem eigenen Fachbereich (Kunstgeschichte) ist die Forschung noch ganz gut zu überblicken. In anderen Fächern ist das zweifellos anders. Da hilft wohl am ehesten eine Publikation in international anerkannten Fachzeitschriften.
Und: Ein Grund mehr, Studierende dazu zu ermutigen, ihre Themen eng zu fassen. Die meisten glauben ja, dass ein großes Thema leichter zu bearbeiten ist. Ihr Artikel zeigt einmal mehr, dass das Gegenteil der Fall ist.
Herzlichen Gruß
Huberta Weigl