Offenheit, Open Science und Open Access sind in aller Munde. Dieser Beitrag am letzten Tag der Open Access Woche 2018 soll mit Verweisen auf andere Texte bewusster machen, dass sich hinter jedem dieser Begriffe durchaus unterschiedliche Sichten, Akteure und Interessen verbergen. Diese Texte und Sichten auf “Openness” bieten gleichzeitig vielleicht Anregungen für neue, interessante Gedankengänge zu Open Access. So unterscheiden Pomerantz und Peek (2016) eine Vielzahl an Bedeutungen von “open”, und Fecher und Friese (2014) sprechen von fünf Denkschulen bzgl. “Open Science”.
Zum Begriff Offenheit
Wissenschaftliches Arbeiten setzt eigentlich von Natur aus auf Offenheit des freien Wissensaustausches. Ein wichtiges Kennzeichen von Wissenschaft ist die Kommunikation. WissenschaftlerInnen, die ihre Forschungsergebnisse nicht publizieren und damit öffentlich machen, sind nicht wirklich Teil der weltweiten Wissenschaftsgemeinschaft.
Von Kurt Tucholsky soll der Spruch stammen: „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“ Byung-Chul Han spricht gar von der “Diktatur der Transparenz” (S. 18). Ein kritischer Blick auf Wissenschaft umfasst daher auch das Bewusstmachen wechselseitiger sozio-ökonomischer Abhängigkeiten der Beteiligten, etwa Wissenschaftler als Autoren, Verlage, oder Bibliotheken – und dies auch beim Thema Offenheit. Das eigene Informations- und Publikationsverhalten wie auch Forschungsergebnisse werden zur Ware. In der Regel mit positiven Werten verbundene Schlagworte wie Offenheit und Open Access ermöglichen es, Information als Ware möglichst frei zirkulieren zu lassen, um Geld damit zu verdienen, wie es z.B. Verlage beim Open Access machen.
Offenheit soll Wissenschaft leichter zugänglich für alle machen. Offenheit als Tugend ist Teil wissenschaftlicher Integrität, d.h. einer ethisch begründeten Haltung bzgl. des eigenen Handelns als Wissenschaftler. Gerade Herausforderungen durch Open Access und Open Science bieten aktuelle Anknüpfungspunkte, um Wissenschaft als solche zum Thema zu machen, da Digitalisierung und Open Science das Verständnis von Wissenschaft auch hinterfragen. Es wird neu über das Funktionieren von Wissenschaft sowie über Qualitätsmerkmale von Wissenschaften reflektiert.
Die Philosophen Hubert Dreyfus und Charles Taylor haben bezüglich Offenheit genau auf diese Komponente der Reflexion beim allgemeinen Offenheits-Begriff aufmerksam gemacht, indem sie auf die Haltung Hans-Georg Gadamers hinweisen. (Dreyfus, Hubert L. u. Charles Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus. Berlin: Suhrkamp 2016. S. 234-235).
“Dadurch wird unser eigenes Selbstverständnis unweigerlich in Frage gestellt. Das ist die Haltung, die Gadamer als ‘Offenheit’ bezeichnet und der Betrachtungsweise gegenüberstellt, bei der man sich zum Wahrgenommenen als einem Objekt der wissenschaftlichen Forschung verhält und den Versuch macht, ‘sich selber aus der Beziehung zum anderen herauszureflektieren und dadurch von ihm unerreichbar zu werden.’ ‘Offenheit für den anderen schließt […] die Anerkennung ein, daß ich in mir etwas gegen mich gelten lassen muß, auch wenn es keinen anderen gäbe, der es gegen mich geltend macht.'” (Die beiden hier zitierten Sätze von Gadamer sind auf den Seiten 342 und 343 dieses Werkes zu finden: Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 2. Aufl. Tübingen: Mohr 1965)
Ist hier vor allem Offenheit gegenüber Menschen gemeint, gibt es aber keinen Grund auch bei Offenheit gegenüber Konzepten, Erfahrungen, Dingen usw. immer die Reflexion als Kern des Begriffs aufzufassen.
Open Access als moralische Ökonomie
Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston (2014) beschreibt „moralische Ökonomien der Wissenschaft“ als systemisch organisierte Gefüge von psychologisch und wert-orientiert beeinflussten wissenschaftlichen Haltungen und Handlungen, etwa das Streben nach Quantifizierung, der Empirismus oder auch das, was man mit Objektivität bezeichnet. Daston (S. 173) zählt auch die Frage von Wissenschaft und Geheimhaltung zu den moralischen Ökonomien, so dass man auch Offenheit als eine solche beschreiben könnte. Für Daston bezieht sich das Wort „Ökonomie“ eher nicht auf wirtschaftliche Aspekte und die „Produktion und Distribution materieller Ressourcen“ (S. 158).
In einem aktuellen Aufsatz bezeichnen Bacevic und Muellerleile (2018) Open Access als moralische Ökonomie. Für sie verändert Open Access die Bedeutung von Wissen von einem ökonomischen Gut zu einem moralischem Gut. Auch hier geht es also nicht nur um die Verteilung von Wissen und dem Zugang zum Wissen sondern auch um dessen Produktion und Inhalt (S. 170), um das Hinterfragen akademischer Arbeit. Mit Sicht auf das Peer Review wird Wissen durch Open Access einerseits tendenziell außerhalb der Notwendigkeit einer Begründung gestellt (S. 183), andererseits würde aber ein Peer Review nach der Publikation nicht nur den Zugang sondern auch das Wissen selbst demokratischer machen (S. 177).
Open Access als Grenzobjekt
Grenzobjekte sind Konzepte, die von unterschiedliche Gruppenn unterschiedlich beschrieben und genutzt werden. Trotz der abweichenden Interpretation enthalten sie aber einen Begriffskern, der so stabil ist, damit das Konzept von den unterschiedlichen Akteuren als Gemeinsames gewahrt bleibt.
Beschrieben wurden Grenzobjekte erstmals von der Soziologin und Wissenschaftsforscherin Susan Leigh Star zusammen mit James R. Griesemer. Der Aufsatz (Star, Griesemer 1989) ist in einer Sammlung von Texten von Star enthalten, die Ende 2017 als Open-Access-Buch publiziert wurde. Der Aufsatz beginnt übrigens mit einer wunderschönen Beschreibung von Wissenschaft:
“Wissenschaftliche Arbeit wird überwiegend von äußerst unterschiedlichen Gruppen von Akteuren betrieben – Forschern aus verschiedenen Disziplinen, Amateuren und Professionellen, Menschen und Tieren, Funktionären und Visionären. Vereinfacht gesagt ist wissenschaftliche Arbeit heterogen. Zugleich erfordert Wissenschaft Kooperation – um gemeinsame Übereinkünfte zu erzielen, für Verlässlichkeit auf allen Gebieten zu sorgen und Informationen zu sammeln, die zeit- und raumübergreifend und in allen lokalen Eventualitäten ihre Integrität bewahren. Dies führt zu einer zentralen Spannung in der Wissenschaft, die zwischen unterschiedlichen Perspektiven und dem Bedarf an verallgemeinerbaren Befunden entsteht.”
Für den Briten Samuel A. Moore (2017) ist Open Access ein Grenzobjekt. Open Access sei kein eindeutiger Begriff sondern eher eine Art und Weise des Umgangs mit den Möglichkeiten, Ergebnisse von Wissenschaft zu verbreiten und zu publizieren. Die Hintergründe und Motivation der jeweiligen Beteiligten, Autoren, Verlage, Wissenschaftsorganisationen, Bibliotheken usw. sind dabei oft sehr unterschiedlich. Trotzdem ist Open Access allgemein genug definiert und wird allgemein praktisch verwendet, um diese unterschiedlichen Sichten auszuhalten.
Moore unterscheidet zwei Traditionslinien von Open Access, einerseits der Wunsch eines kostenfreien Zugangs zu wissenschaftlicher Information, basierend auf Repositorien und Open-Access-Zeitschriften, andererseits als ein Produkt der Open-Source-Bewegung, um unter möglichst offenen Ressourcen die Weiternutzung von Information zu erlauben. Offenheit impliziert für Moore Freiheit und Transparenz und passt damit sowohl zu einer neoliberalen Wirtschaftsentwicklung als auch zu politischen Ansätzen, eine pluralistische und demokratischere Gesellschaft weiterzuentwickeln. Die Betonung solcher Unterschiedlichkeiten sind für Moore wichtig, damit Open Access nicht nur unter rein wirtschaftlichen Gründen gesehen wird. Open Access umfasst keine homogene Bewegung, und es gibt keinen einheitlichen Weg zu Open Access. Diese Verschiedenheit der Sichten umfasst auch das Potential, dass sich der Open-Access-Gedanken weiterhin durchaus unterschiedlich und hoffentlich auch kreativ weiterentwickeln wird.
Offenheit in der Wissenschaft hat Geschichte
Moralische Ökonomien sind für Daston einem historischem Wandel unterworfen. Zum Empirismus gehört z.B. die Frage, was eine Tatsache ist. Tatsachen wurden aber etwa im 17. Jahrhundert anders gelebt und verstanden, als dies heute passiert, sie waren eher außergewöhnlich und singulär (Daston 2014, S. 173), etwa die Beschreibung eines Vulkanausbruches oder eines Erdbebens, und nicht etwas, was durch wiederholte Experimente „bewiesen“ worden war.
Auch Offenheit als Tugend wissenschaftlichen Arbeitens – epistemische Tugenden, die Daston (2014, S. 15) erwähnt, sind Objektivität, Wahrheit, Gewissheit und Genauigkeit – lässt sich historisch mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen, wenn etwa Robert Boyle Offenheit wissenschaftlichen Wissens gegenüber Kritik fordert, das von anderen weltweit und zu jeder Zeit genutzt werden kann und was durch die Publikation von Ergebnissen gesichert werden sollte (Neylon 2017, S. 14).
Die in Lund arbeitende Informationswissenschaftlerin Jutta Haider stellt anhand eine Untersuchung der Gründungsdokumente der Open-Access-Bewegung die spannende Frage ” “If open access and open science are the solutions, then what is the problem they are meant to solve?” (Haider 2018).
Die Geschichte offenen Wissens umfasst noch viele weitere Aspekte, Wikipedias Ahnen zeugen davon.
Zitierte Literatur:
Bacevic, Jana u. Chris Muellerleile: The moral economy of open access. In: European Journal of Social Theory 21 (2018) H. 2. S. 169–188. https://doi.org/10.1177%2F1368431017717368
Daston, Lorraine: Die moralischen Ökonomien der Wissenschaft. In: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2014. 157-184.
Dreyfus, Hubert L. u. Charles Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus. Berlin: Suhrkamp 2016.
Fecher, Benedikt u. Sascha Friesike: Open Science: One Term, Five Schools of Thought. In: Opening Science. The Evolving Guide on How the Internet is Changing Research, Collaboration and Scholarly Publishing. Hrsg. von Sascha Friesike u. Sönke Bartling. Cham: Springer 2014. S. 17–47. https://doi.org/10.1007/978-3-319-00026-8_2
Haider, Jutta: Openness as Tool for Acceleration and Measurement: Reflections on Problem Representations Underpinning Open Access and Open Science. In: Open divide : critical studies on Open Access. Hrsg. von Joachim Schöpfel u. Ulrich Herb. Sacramento, CA: Library Juice Press 2018. (S. 17-28). Sacramento, CA: Library Juice Press 2018.
Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2016.
Moore, Samuel A.: A genealogy of open access: negotiations between openness and access to research. In: Revue française des sciences de l’information et de la communication (2017) H. 11. https://doi.org/10.4000/rfsic.3220
bzw.
Moore, Samuel A.: Open/Access: negotiations around a concept. In: Open divide : critical studies on Open Access. Hrsg. von Joachim Schöpfel u. Ulrich Herb. Sacramento, CA: Library Juice Press 2018. (Open Access Version).html
Neylon, Cameron: Openness in scholarship: A return to core values? In: Expanding perspectives on open science. Communities, cultures and diversity in concepts and practices : proceedings of the 21st International Conference on Electronic Publishing. Hrsg. von Leslie Chan u. Fernando Loizides. Amsterdam: IOS Press 2017. S. 6–17.
Pomerantz, Jeffrey u. Robin Peek: Fifty shades of open. In: First Monday 21 (2016) H. 5. https://doi.org/10.5210/fm.v21i5.6360
Star, Susan Leigh u. James R. Griesemer: Institutionelle Ökologie, ›Übersetzungen‹ und Grenzobjekte. Amateure und Professionelle im Museum of Vertebrate Zoology in Berkeley, 1907-39 (1989). In: Grenzobjekte und Medienforschung. (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha). Bielefeld: transcript Verlag 2017. 81-115, 81 Open Access unter http://oapen.org/search?identifier=640433.
Dieser Beitrag ist ein “Update” zu Beiträgen “Nachdenken über Offenheit” (2016) sowie “Nachdenken über Open Access” (2013) im privaten Blog des Autors.
Einige der Gedanken des obigen Textes und einige der Sätze entstammen folgendem bisher nur als Preprint publizierten Text, Thomas Hapke: Wissenschaft und Offenheit : Reflexion über Wissenschaft als Teil der Lehre zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben. In: Praxishandbuch Schreiben in der Hochschulbibliothek, herausgegeben von Willy Sühl-Strohmenger und Ladina Tschander. Berlin: De Gruyter, 2019.
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Lieber Herr Hapke, da haben Sie Ihren Lesern mal wieder ein paar ordentliche Brocken vorgeworfen! Danke – es ist wie immer anregend zum Selberdenken.